Montag, 9. Januar 2006

Ein Tag im Schloß Bellevue

Schon um um acht Uhr morgens rollt die schwere Limousine am Wachtposten des ehrwürdigen klassizistischen Baus vorbei. Müde grüßt Bundespräsident Horst Köhler die beiden jungen Soldaten. Sie können ihn wegen der verspiegelten Scheiben nicht sehen, dennoch nicken sie freundlich über die vergoldeten Ränder ihrer Kaffeebecher zurück. Wenige Minuten später sitzt Köhler selbst vor einer dampfenden Tasse frischen kolumbianischen Kaffees. Der Butler hat die aktuelle Ausgabe der "Frankfurter Allgemeine Zeitung" bereits auf dem Arbeitstisch ausgebreitet. Köhler ist nun schon seit Jahrzehnten ununterbochen Abonnent des Blattes, vergangenes Jahr hat man ihm als Prämie für seine Treue die Uwe-Johnson-Werksausgabe zukommen lassen, die sich nun an der äußersten Ecke des klobigen Marmortisches an das Gesamtwerks Strindbergs schmiegt. Beide Schuber sind noch unangetastet: "Die Jungs sind mir einfach zu heftig!" gibt Köhler schmunzelnd zu.
Kaum ist die Lektüre der "FAZ" beendet, wirft er einen Blick in den Terminkalender. Wird heute ein Staatsgast, zum Beispiel der Präsident von Amerika, erwartet? Muß der Repräsentant des Volkes eine Lukas-Cranach-Ausstellung eröffnen? Meist sind keine Einträge vorhanden. Dann erhebt Köhler sich und streift durchs Schloß. Hie und da fährt er mit dem Finger über Kanten, um zu prüfen, ober der Putzdienst gute Arbeit geleistet hat. Hungrig kehrt der Regent in das Arbeitszimmer zurück. Die schwere Standuhr zeigt, daß es Zeit wird für einen kleinen Imbiß. Köhler klappt die mobile Herdplatte aus, die auf dem Beistelltischchen steht. Meist gibt es Rührei mit Dill, dazu gebutterten Toast mit Räucherlachs - Köhler ist eben ein Genießer. Frisch gestärkt setzt er sich an den Computer und schaut, ob Emails eingegangen sind, doch außer den üblichen Einladungen zu Klassentreffen und den Newslettern diverser Klassik-Plattenfirmen kommen selten wichtige Nachrichten. Köhler jedoch bleibt online, er sucht auf diversen Seiten nach dem Witz des Tages, um ihn an seine Amtsvorgänger und Kollegen in aller Welt weiterzuleiten. Sein liebster Scherz ist dieser: Was ist der Unterschied zwischen einem Hustensaft und einem Mönch? Antwort: Der Hustensaft ist ein Heilserum, der Mönch hat ein Seil herum! Köhler freut sich wie ein kleines Kind, das einen Luftballon geschenkt bekommen hat. Humor geht ihm über alles, für einen guten Witz würde er seine Familie ans Messer liefern.
Schnell bestellt er bei einem Online-Blumenhaus einen Blumenstrauß für seine Frau, dann begibt er sich in den Festsaal. Hier serviert ihm der Butler einige Kännchen schwarzen türkischen Moccas, das lange Sitzen vor dem Bildschirm hat den höchsten Mann im Staat müde gemacht. Dazu verzehrt er ein Päckchen Weinbrandbohnen. Nun ist es Zeit für einen Spaziergang! Aufgewühlt und angeduselt begibt sich Köhler in den Park, wo er ein wenig Unkraut zupft, das unterm Ficus wächst und den jungen Dingern nachstellt, die dem Palastgärtner als Gehilfinnen dienen. Wenige Stunden später steht Köhler wieder im Arbeitszimmer, lugt mißmutig und sehnsüchtig durch die schweren Brokatvorhänge und hofft, daß der Chauffeur bald von seinem täglichen Einkaufsbummel zurückkehrt.
Siebzehn Uhr dreißig: es geht nach Hause! Der Feierabendverkehr ist enorm, erst eine Stunde nach Dienstschluß ist Köhler in seiner Villa in Dahlem angekommen. Seine Frau begrüßt ihn überschwenglich: "Horst! Wie war Dein Tag?" - "Ach Schatz, all' die Verantwortung! Auf meinen Schultern!"
Und so geht ein weiterer Arbeitstag im Leben des Horsts Köhler unbeschadet zu Ende.

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